Reise nach Kuba

von Frauke Zelt  0

Step by Step nach Kuba - ein Tagebuch

Donnerstag, 15.10.15: Wir packen unsre Koffer und nehmen mit…

…Berge von Arzneimitteln und Verbandszeug, Zahnbürsten und Kosmetik! Es muss an der nachtschlafenen Zeit des Check-In in Schönefeld gelegen haben, dass unser Gepäck ohne näheren Blick in die Koffer und auf deren Kilos durchgeht. So viel können sich TänzerInnen weder waschen noch verletzen, aber die Wünsche unserer kubanischen Gastleute erfüllen wir schließlich gern. Nach 16-stündiger Reise landen wir am Nachmittag in einem Palmenmeer in Havannas 30-Grad-Wärme, in Carmens weichen Armen und José Luis‘, ja, sagen wir: bemerkenswertem Bus… Der muss ne halbe Stunde vor Abfahrt schon mal gestartet werden, bevor die in die profillosen Vorderräder geklemmten Holzklötze eigenhändig eingesammelt werden (daher das Wort Handbremse). Die fehlenden Anschnallgurte sagen uns: Macht euch mal locker, Mädels! Aber nicht zu sehr. Ab jetzt, so verordnet es unsere resolute wie herzliche Reisebegleiterin Carmen, wird vor jeder Abfahrt spanisch durchgezählt, wir können es im Schlaf: uno, dos , tres …. veintisiete …..

Freitag, 16.10.: Das ist ja wie auf der Aida, hier gibt’s jeden Tag Papaya!

Dass Christina Freudenschreie zum Frühstück ausstößt, freut wiederum uns. Wir wollen sie bei Laune halten, schließlich soll die Dolmetscherin 14 Tage lang alles übersetzen – was sie, das sei hier vorweggenommen, absolut exzellent, augenzwinkernd, konzentriert und leidenschaftlich tut, egal wie heiß Tag oder Thema, wie kompliziert Gesprächsstoff oder –partner auch sind. Danke!!! Neben dem Frühstück (weiche Maisbrötchen, Würstchen und hart gekochte Eier zu gesüßtem Kaffee und Tee) wird es auch das Mittagessen (Reis mit roten Bohnen, Maniok und Fleisch) und Abendbrot (grüner Bohnensalat mit Avocado und Gurke) nun jeden Tag im Essenraum des Martin-Luther-King-Memorial-Centers (CMLK) geben. Dieses 1987 gegründete, kirchennahe Nachbarschaftsheim an der Avenida 31 im Stadtteil Marianao liegt am geographischen und auch sozialen Rand von Havanna. Doch seine zwei Dutzend einfachen Zimmerchen mit je zwei Doppelstockbetten, mit funktionierenden Toiletten und Duschen sind eher Luxus für normale Kubaner. Die treffen sich tagsüber im Innenhof des dreistöckigen Zentrums - zum Abfüllen von Wasser für ihre Babys, auf einen Kaffee oder zu einem Bildungskurs, immer fröhlich, meist singend oder summend oder tanzend. „Kuba ist der Sex für die Welt“, sagt Joel Suárez. Der Philosoph in seinen Jeans und Boots, zum Zopf gezwungenen wilden Haaren und Lederarmbändern ist der Sohn des Zentrumschefs, eines kubanischen Parlamentsabgeordneten. „Mick Jagger war hier, Sting auch. 15 bis 20 US-Gruppen besuchen das Zentrum jedes Jahr.“ Mit der Annäherung der USA und Kuba öffneten sich Kommunikationskanäle zwischen den Menschen. „Aber der Kapitalismus hat in die Beziehungen von Liebe, Freundschaft und Libido das Dollarzeichen gesetzt.“ Joel will auf die Straße gehen demonstrieren, wenn der erste McDonald‘s eröffnet. Sein Sohn wiederum dürfte sich an amerikanisches Fastfood schon gewöhnt haben, der tanzt nämlich in der Sasha-Waltz-Company bei uns in Berlin.

„Alles klar?!“ Damit begrüßt uns Raúl Diago in seinem Restaurant, das seinen Spitznamen trägt. Als ‚La Figura‘ hat sich der Star-Volleyballer, der mit seiner KubaNationalmannschaft 1998 Weltpokalsieger wurde, in die Sport- und kubanische Geschichte gespielt. Hier, umgeben von seinen Pokalen und Fotos mit Stars, Sternchen und Fidel Castro wollen wir nun eine gute Figur abgeben: bei unserer ersten kubanischen Tanzstunde mit Lisandra. Aus dem Danzón, dem ur-kubanischen Paartanz, in dem Frauen mit Fächern auf nur 50x50cm großen Fliesen tanzten, entwickelten sich im 20. Jahrhundert Mambo, ChaChaCha und Rumba, erzählt die Studentin. Der Name ChaChaCha komme von den Geräuschen der Tanzschritte auf dem Boden; und die Bezeichnung Mambo von gesungenen Satzfetzen und Lauten. Rumba hätten früher Männer auch oft allein getanzt, z.T. mit verbundenen Augen, auf einem von zerschlagenen Flaschen übersäten Boden. Und Timba sei eine kubanische Abwandlung der Salsa, den emigrierende Lateinamerikaner in die USA mitnahmen. Unsere praktischen Übungen gipfeln in einer ekstatischen Conga, einer Kombi aus allem Gelernten, die man auf Umzügen und Partys tanzt. Genau das passende Warm-up für die erste Begegnung mit unserer kubanischen Partner-Tanzgruppe Bebé Compañía am Abend. Das strahlende Make-up der untergehenden Sonne kann nicht über die tiefen Furchen und Risse in der Fassade, die blankliegenden Eisenstreben und scheibenlosen Fenster der altehrwürdigen Schule hinwegtäuschen, in deren Aula wir wie in surrealistischer Filmkulisse das gemeinsame Finale für den Fernsehauftritt unserer beiden Tanzteams am Tag der kubanischen Kultur am Sonntag einstudieren. Und: Es ist eine Conga!

Sonnabend, 17.10.: Wohin ziehen die Gewitterwolken, Carmen? Das entscheiden sie selbst.

Unser erstes Bad im Meer, zugegeben, nahmen wir unfreiwillig am Malecón, als der Sturm hohe Wellen über die Strandmauer peitscht. Am Tage war DIE Strandpromenade Havannas recht unwirtlich und leer, am Abend und Wochenende tummeln sich dort die Verliebten und jugendlichen Cliquen - bei Rum und TuCola, der einheimischen und preiswerteren Variante der Coke.

Regenzeit und grau-schwarzer Himmel sind für uns kein Grund, auf einen Strandtag zu verzichten. Als wir am Playa del Este nach el baño fragen, zeigt der Strandbarkeeper generös einladend aufs Meer: Ladies left, Men right. Nachdem wir uns am Tag freigeschwommen und abends mit Guantanamera und Girl of Ipanema von den Musikerinnen Natasha und Marla in Stimmung gebracht haben, erkunden wir unser Viertel. Bier, Rum und Cola bekommen wir an der Tanke um die Ecke. Ein paar versuchen es in der dunklen Bar gegenüber vom CMLK. Dass es 5 CUC (entspricht 5 Euro) Eintritt kostet und dann von innen, obwohl überhaupt nicht gefüllt, abgeschlossen wird, war schon, nun ja, ungewohnt. Aber schließlich hat Kuba mit die geringste Kriminalitätsrate in Lateinamerika, und zwei gestandene Step-by-Stepler haben die Mädels noch vor Mitternacht mannhaft ausgelöst.

Sonntag, 18.10.: Ein Tag ohne Sünnros ist sünnlos

Die Bühne für unseren Fernsehauftritt im Museum der Schönen Künste steht zwischen modernen Skulpturen und Installationen und neben einem überdimensionalen silbernen Sofa in Flugzeugform, das Thomas Gottschalk sofort für „Wetten dass“ geordert hätte. Das Kinderspielhaus im Museumscafe besteht aus tausenden ausgemusterten Espressokochern. Jesus ist in einer Planierraupe eingesperrt. Pinocchios lange Nase wird zum Strick, der einen Bücherstapel fesselt. Wir sind hingerissen – vor allem vom stolzen, farbenfrohen Flamenco unserer Partnertanzgruppe, ihren wahnwitzig schnellen Schrittkombinationen. Das kubanische Publikum mag besonders unsere Folklore, Sünros und Czardas, und amüsiert sich sichtlich bei den Tänzen, die eine Geschichte erzählen: die von listigen Mücken, quirligen Nudeln oder filmverrückten Kinoeulen. Am meisten jedoch, alles in allem ganze 10 Mal in den zwei Wochen, werden wir „den überfüllten Bus“ zeigen – diesen Tanz führt praktisch jeder Kubaner jeden Tag auf, wenn er in der Hauptstadt mit den proppenvollen öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist. Nach dem Programm kommt eine Kubanerin zu uns und erzählt, dass ihre schöne große Tochter leider nicht Tänzerin werden wollte, sondern lieber Ärztin... Würde eine Mutter in Europa das bedauern?

Draußen hat der Regen Straßen und Wege unter Wasser gesetzt – Jungs schlittern mit großem Gejohle eine abschüssige Hotelzufahrt auf dem Hosenboden herunter und uns vor die Füße. Das wirkt so reich – an Lebensfreude und Einfallsreichtum. Traurig dagegen, wenn auch nicht ohne einen gewissen morbiden Charme, sind die einfallenden Häuser im alten Kolonialstil. Für viele wird die von Staat und Stadt begonnene Rekonstruierung von Havannas Zentrum zu spät kommen – zum Glück nicht für das Hotel Ambos Mundos. Der Geist von Stammgast Ernest Hemingway weht zwar durch die Lobby, schaltet aber leider nicht den vor sich hin laufenden Fernseher aus, gegen den ein alter Barpianist tapfer anspielt. Auf dem Dach gönnen wir uns einen grandiosen Blick über die Dächer von Havanna und: einen Mojito.

Das Piano und der Coro Diminuto, der dazu singt, bekommen am Abend im CMLK unsere volle Aufmerksamkeit. Die Mädchen und Jungs von einer musikorientierten Schule spielen alle Klavier, dazu meistens noch ein anderes Instrument oder genießen eine Gesangsausbildung. Für diese vollständig kostenlose 9jährige Ausbildung üben die 11- bis 15-Jährigen täglich mehrere Stunden in der Schule und zuhause. Fröhlich und demütig, augenzwinkernd und konzentriert singen sie ihr Repertoire vom ersten überlieferten kubanischen Lied El Son bis zum Ave Maria. Bei der Ode an die Freude sind sie textsicherer als wir und mit John Lennons „Imagine“ rühren sie uns zu Tränen. So große Künstler, so bescheiden und erfrischend. Sie lachen sich über unseren Bus-Tanz kaputt und auch über sich selbst, als Saxophonistin Laura erzählt, wie sie beim Begrüßen des Papstes im letzten September einfach mal vor Aufregung umgekippt sei.

Montag, 19.10.: Genießt mein Land, aber versucht nicht, es zu verstehen!

Als Elias in der Schule Probleme mit eigentlich allen Lehrern, aber insbesondere einem hatte, riet ihm der von seiner katholischen Mutter gerufene Santería-Meister: Er solle den Namen des Lehrers auf ein Papier schreiben, seinen eigenen darüber und das ins Gefrierfach legen. Das hilft? Und ob! Elias Aseff ist heute ein gefragter Kunsthistoriker, und er führt uns zu den afrikanischen Wurzeln der kubanischen Geschichte und Kultur. Wir treffen ihn in einem kleinen heiligen Park inmitten eines quirligen afrikanischen Viertels, dessen alte Bäume spirituellen Ritualen dienen – und die von uns als Müllecken ausgemachten Wurzelgeflechte als Opferstellen. Im Palacio de Rumba, wo direkt über einem wunderschönen alten Gemälde eine grelle Neonreklame flackert, haben in der Nacht zuvor anscheinend ausgelassene Partygäste Unmengen von Bier- und Coladosen geopfert. Die Rumba, so Elias, ist eine Verkleidung der Religion. Als zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert anderthalb Millionen Afrikaner 80 verschiedener Ethnien als Sklaven nach Kuba verschleppt wurden, durften sie ihre eigenen Tänze nicht tanzen – und (ver)steckten ihre Elemente eben in die Rumba.

„Man kann in Kuba gleichzeitig Kommunist, ein Anhänger afrikanischer Religion, Katholik und Homosexueller sein“, erzählt Elias. „Jeder Kubaner, der sagt, er glaube an nichts, lügt. Kuba hat so viele Krisen durchlebt, dass jeder an irgendwas glauben muss.“ Von den heute noch vier praktizierten afrikanischen Religionen auf Kuba ist die Santería die verbreitetste. Der Name der erst seit 1992 offiziell auf Kuba erlaubten Glaubensrichtung geht auf die Spanier zurück, die damit die Verehrung katholischer Götter durch die Sklaven bezeichneten – denn die Verschleppten mussten so tun, als seien sie katholisch. Noch heute muss man in einigen Santería-Gemeinden getauft sein; doch eine Trommelzeremonie der Anhänger der Santería beim Papstbesuch auf Kuba 1998 ließen die offiziellen Stellen nicht zu. Für die santeros, die ihre Geister um Energie bitten, gibt es strenge Aufnahmeregeln, z. B. sich ein Jahr in weiß zu kleiden oder sich ein Jahr nicht fotografieren zu lassen oder ein Jahr niemandem die Hand zu geben oder ein Jahr nicht nach 18 Uhr aus dem Haus zu gehen oder 3 Monate keinen Sex zu haben. Übrigens: Die kleine Voodoo-Puppe, die jetzt Evis Schrein in ihrem Friedrichshainer Wohnzimmer ziert, hat unsere atheistische Tanzchefin für die richtige Antwort im Religionsquiz gewonnen :) . Wir anderen werden mit einen Rat von santero Elias getröstet: Hast du Ärger mit deinem Freund oder Mann, schreib seinen Namen auf ein Stück Papier und streiche Honig darüber – aber nicht zu viel, sonst wirkt es nicht!

Religiöse Praxis bekommen wir in der berühmten Gasse „Callejón de Hamel“, in der ein Künstler sämtliche Häuserwände mit Malereien verziert hat. Nachdem wir mit einer afrikanischen Gruppe die Elemente Feuer, Wasser und Wind auf der Straße vertanzt haben, fällt doch auch glatt unser Bus noch etwas wilder und zügelloser aus.

Nun noch ein Abstecher zu den Schutzheiligen des Sozialismus: Am Platz der Revolution schauen Fidel Castros engste frühere Gefährten Che Guevara vom Innenministerium und Camilo Cienfuegos vom Ministerium für Informatik und Kommunikation auf uns herab. Neben dem übergroßen, aus Metall geformten Gesichtsumriss von Che steht „Hasta la victoria siempre“ (Bis zum endgültigen Sieg). Bei Camilo: „Vas bien, Fidel.“ Castro, so geht die Legende, fragte vor jeder Entscheidung seinen Freund Camilo, ob das so ok sei. Die Antwort: Ja, das ist der richtige Weg. Bei einem Baseballspiel soll sich Camilo geweigert haben, in der Gegenmannschaft von Fidel zu spielen: Er kämpfe nicht gegen Fidel, nicht mal beim Nationalsport. Am 28. Oktober 1959 ist Camilo mit einem Flugzeug über dem Meer abgestürzt, Maschine und Leiche wurden nie gefunden. Bis heute halten sich die Gerüchte, nach denen Fidel auf diese Weise einen Konkurrenten aus dem Weg geschafft haben soll.

Ja, die Kubaner verehren ihre Revolutionäre bis heute, aber ihr Nationalheld ist José Martí. 1953, zum 100. Geburtstag des Dichters, also noch unter dem Batista-Regime, begann man mit dem Bau des Martí-Museums am heutigen Revolutionsplatz. Von hier elektrisierte der große Fidel Castro Hunderttausende mit seinen Reden. Martí, das erste von neun Kindern einer nicht sehr betuchten Familie, dagegen war klein, schmächtig, kränklich. Obwohl er sich für Worte statt Waffen interessierte, übernahm er im dritten Unabhängigkeitskrieg im April 1895 die Führung eines Bataillons – und fiel im Mai. Die Abschiedsbriefe an seinen Sohn und seine Frau hatte er vorher geschrieben. Genauso wie die Verse für den weltbekannten Song „Guantanamera“.

Bevor wir am Abend zur Life-Musik mit Guantanamera und Co im kleinen kubanischen ArtEx-Club völlig unchoreografiert abtanzen können (und zu einem wundervollen Duett unserer Reiseleiterin Carmen mit ihrer Tochter Lisandra dahinschmelzen), ist Haltung gefragt. Der Flamenco-Workshop bei Bebé hat es nämlich in sich: Wie viel Ausdauer diese stolzen Haltungen erfordern. Wie atemberaubend schnell die Drehungen sind. Wie anmutig, aber absolut anstrengend die kunstvolle Drehbewegung der Hände.

Dienstag, 20.10.: Ich werde Kokosnussbäuerin!

Er sieht ein bisschen aus wie Harry Belafonte und hofft (mit einem Augenzwinkern), dass er jetzt das Tanzen lernt: Der Verwaltungsdirektor der 1999 am Meeresstrand bei Havanna gegründeten Lateinamerikanischen Universität für Medizin ist für rund 500 Studenten aus 90 Ländern verantwortlich, die hier zu Nothilfe-Ärzten für den Einsatz in Katastrophengebieten wie beim Erdbeben auf Haiti oder der Ebola-Epidemie in Afrika ausgebildet werden. Für die unter 25-Jährigen aus Lateinamerika und Afrika, der Karibik und dem Pazifik, aus Asien, dem Nahen Osten und sogar den ärmeren Teilen der USA sind die gesamte Ausbildung, Unterkunft und Verpflegung, Lehrmaterialien und der sechsmonatige Spanisch-Sprachkurs kostenlos. Wenn sie nach dem Studium in ihre Heimatländer zurückkehren – und das müssen sie - sollen sie Kubas Ansehen mehren, den Geist von Solidarität und Menschlichkeit und die Erfahrung des Zusammenlebens vieler sich respektierender Kulturen mitnehmen. Zwar lernen die Studierenden hier – gezielt, aber auch notgedrungen - vor Ort mit wenigen einfachen Gerätschaften wie Thermometer und Stethoskop auszukommen, also gute Arbeit unter schlechten Bedingungen zu machen. Dennoch ist der bis eben so beherrschte Direktor zu Tränen gerührt, als wir ihm die mitgebrachten, für uns selbstverständlichen medizinischen Utensilien wie sterile Verbände und OP-Seide überreichen.

Jetzt geht’s nach San Antonio de Los Baños, einen Vorort südwestlich von Havanna – und damit in zweierlei Hinsicht (back) to the roots. Natürlich hat die Bio-Finca „Zwei Brüder“ im Becken des Palmenflusses mit Wurzeln zu tun. Aber hier liegt auch der Grund, warum das mit Kuba und uns überhaupt geklappt hat: Christin, Mama von Step-by-Step-Tänzerin Hanna, hat vor 20 Jahren hier drei Monate lang die Farm mit aufgebaut und dabei einen jungen Kubaner, ihren heutigen Mann und Hannas Papa, kennenglernt. Neben Hanna wurzeln hier Avocadobüsche mit Früchten, die mindestens fünfmal größer sind als wir sie kennen, Bananenbäume und Kokospalmen. Agrarökonom Pedro schlachtet Kokosnüsse mit der Machete für uns, wir lassen sie wie einen Cocktail von Mund zu Mund kreisen, Augen verdrehen sich vor Genuss. Dabei ist in dem milchig-süßen Wasser noch gar kein Rum drin… Ich will sofort Kokosnussbäuerin werden, beschließt eine von uns.

Bananen, wissen wir, sind das Lieblingsobst der Deutschen. Dass man auch die Blüten kochen und essen kann und das Wasser im Bananenbaum Krebs vorbeugen soll, lernen wir. Und dass vor allem die guten roten kubanischen Kaffeebohnen einen guten Preis erzielen. Und dass es an der fehlenden Lagermöglichkeit liegt, dass wir auf dem Heimatkontinent der Kartoffel keine zu essen bekommen. Reis dagegen, der hier täglich mittags und abends gegessen wird, baut Kuba selber an, 40 Prozent des Bedarfs werden aus China importiert. Dass das Palmenflussbecken zurzeit nur ein Fünftel seiner Wasserspeicherfähigkeit hat und Bewässern in der Landwirtschaft grad verboten ist, ist nur eines der Probleme der Finca-Leute. Umso dankbarer sind sie, dass NGO’s und die Kirche in Deutschland das Öko-Projekt hier unterstützen. Pastor Santiago Delgado lässt uns zum Abschied alle miteinander umarmt im Kreis aufstellen und eine Minute der Natur und der Stille zuhören...

…bevor uns, zurück in Havanna, im Teatro Mella eine große Ehre zuteil wird. Noch nie zuvor durfte eine ausländische Gruppe beim José-Martí-Festival auftreten. Einem geladenen Publikum und dem Vizepremier und Kulturminister zeigen wir unsere Makkaroni, die Kinoeulen und – den Bus. Eine Zeitung schreibt danach, dass ein deutsches Tanzteam der traditionellen Veranstaltung neue Frische verpasst hätte…

Mittwoch, 21.10.: Für den Herzenswunsch dreimal nachts um die Ceiba

Wie raffiniert, die kurze Hose unter dem daran angenähten Rock: Jeden Tag sehen wir Mädels und Jungs in Schulkleidung auf der Straße – und wir werden kein Kind zwischen 5 und 15 Jahren treffen, das nicht zur Schule geht, versichert uns die Leiterin des, wie sie sagt, weltweit einzigen Alphabetisierungsmuseums. Es werde in einem Jahr keinen Analphabeten mehr in Kuba geben, versprach Fidel Castro 1960 in seiner viereinhalbstündigen Rede vor den Vereinten Nationen (so lange hat danach dort niemand mehr reden dürfen…nun ja.) Mehr als eine Viertelmillion Lehr- und Hilfskräfte, darunter 100.000 Schüler und Studenten, gingen damals aufs Land, um einer Million Bäuerinnen und Bauern, immerhin ein Viertel der kubanischen Bevölkerung, Lesen und Schreiben beizubringen. Angst vor der Dunkelheit und vor Tieren hätte sie gehabt, Heimweh und Probleme mit dem komischen Essen, erzählt uns eine heutige Rentnerin, die als 13- Jährige gegen den Willen ihrer Eltern und mit Lust auf Abenteuer Teil der Kampagne und später „richtige“ Lehrerin wurde. Sie war aber fast doppelt so alt wie die jüngsten Unterrichtenden, dennoch habe es nur wenige Bauern gegeben, die ihre minderjährigen „Meister“ nicht akzeptierten oder für die Feldarbeit missbrauchten. Die Petroleumlampe, in deren Schein selbst über 100-Jährige nachts Hausaufgaben erledigten, wurde zum landesweiten Symbol der Kampagne. Heute machen mehr als die Hälfte aller kubanischen Schüler einen Hochschulabschluss – in einem von 10 Fächern, die der Staat ihnen zur Auswahl stellt und mit der Verpflichtung, zunächst an einem bestimmten, nicht unbedingt favorisierten Ort eingesetzt zu werden.

Soll dein Wunsch in Erfüllung gehen, musst du in der Nacht zum 16. November, dem Tag des Stadtpatrons, dreimal schweigend um die Ceiba herumgehen, verrät uns am Nachmittag Stadtführerin Lidia. Der alte Baum steht vor Havannas ältestem Haus am Malecón, von dem wir zur übermannsgroßen Christus-Statue von 1953 am anderen Ufer hinaufschauen. Dort legen Brautleute an ihrem Hochzeitstag oder Mädchen an ihrem 15., ihrem hier wichtigsten Geburtstag, Blumen nieder. Wir beschwören unser Glück, indem wir wie alle Touristen einem Stadtstreicher den inzwischen funkelnd blank gerubbelten Bart streicheln. Wie die meisten der unzähligen Skulpturen dieser Stadt ist er aus Bronze, andere auch aus Stein, und wiederum andere sind nicht von plötzlich sehr lebendigen Schaustellern zu unterscheiden, wie Edgar einmal arg erschrocken feststellen musste. Dabei ist der 7-Jährige und drittjüngste aus unserer Reisegruppe ein richtiger Kerl: Nach einem Workshop bei Bebé beklagte er, dass man(n) da immer so sexy sein müsse, Hüftschwung und so, sei nicht sein Ding. Aber an diesem Trainingsabend bringen wir den Kubanern unseren Seilzieh-Tanz bei, das passt, auch für Edgar.

Donnerstag, 22.10.: „Hier lachen wir, hier weinen wir, und hier verlieben wir uns auch“

Was haben Seekühe und der Cuban Parrot, der prähistorische Knochenhecht und das kubanische Krokodil gemeinsam? Sie sind allesamt vom Aussterben bedroht. Bei letzterem beruhigt uns diese ansonsten bittere Wahrheit auch etwas, aber um den rotgrün-gefiederten kubanischen Papagei Amazona Leucocephala wär’s wirklich schade: Er krächzt - ungelogen: Step by Step! Im Vogelschutzgebiet der Ciénaga de Zapata im Südwesten Kubas züchten 11 Naturschützer den bis zu 50 Jahre alt werdenden Vogel und wildern ihn aus – nicht ohne Risiko. Denn neben Hurricans und dem Klimawandel überhaupt machen dem seltenen Tier auch schräge Vögel auf der Jagd nach Trophäen zu schaffen: Viele Kubaner hätten so einen Papagei nämlich am liebsten zuhause. Ein Fünftel von Kubas Fläche steht unter Schutz – auch, damit die Heerscharen von Zugvögeln ungehindert passieren können: Darunter ist auch der kleinste Vogel der Welt: Der Hummelkolibri misst von Schnabel- bis Schwanzspitze 5,5 Zentimeter.

Nach dem Ausflug unserer Kulturtruppe in die Natur gibt’s auch zum Mittagsimbiss in einem lauschigen Gasthof unter Palmen mit kubanischer Live-Band was Seltenes: Hummerfleisch. Während unser Buffett unter Reis und Brot, Guaven und Mangos, Fisch und Fleisch ächzt, gähnt in den Regalen im benachbarten typischen Lebensmittelladen vor allem: Leere. Wir sehen Nudeln und Scheuerlappen, Brause und Alkohol – alles auf Zuteilung. Die Monatsration für einen Kubaner, u.a. mit 7 Pfund Reis, 4 Pfund Zucker, einem halben Pfund Bohnen, einem Liter Öl, etwas Fleisch, reicht meist gerade für die erste Woche. In Havanna erhalten nur Schwangere und kleine Kinder Rind-, die anderen Hühnerfleisch. Kinder, Kranke und weitere besonders Bedürftige bekommen bestimmte Lebensmittel extra. Auch Zigarrenpäckchen – ohne Markennamen, aber von der Masse der normalen Kubaner geraucht - gibt’s auf Marken. Davon ist reichlich da und wir kaufen welche: Ein Päckchen mit rund 15 Stück für umgerechnet einen guten Euro. Mit seinem Monatsverdienst von 300 kubanischen Pesos oder umgerechnet 20 bis 30 CUC (konvertierter Peso, vergleichbar mit den Forum-Schecks in der früheren DDR; 1 CUC = 1 €) kommt der Kubaner nicht weit: Allein ein Brot kostet 100 Pesos. Und so wundert es nicht, dass ein Kubaner bei einem neuen Job nicht zuerst nach seiner Arbeit oder dem Verdienst gefragt wird, sondern: Was könntest du da abzweigen?

Korimacao – das heißt in der Sprache der indigenen Völker: mit dem Häuschen auf dem Rücken unterwegs sein. Meint: Wo ich den Rucksack absetze, bin ich zuhause. Das gleichnamige Künstlerprojekt bringt die Kultur zum Volk – auch in den entlegensten Winkel des Landes. „Hier lachen wir, hier weinen wir, und hier verlieben wir uns auch“, stellt uns der Leiter sein Projekt vor. Rund 180 junge Tänzer, Musiker, Schauspieler und bildende Künstler proben hier elf Monate in dem kleinen lauschigen Palpite zusammen und touren dann mit Orchester, Theatergruppe, Tanz-Compagnie oder Zeichenzirkel zu allen Siedlungen dieser dünn besiedelten Ciénaga de Zapata. Jeweils vier Tage bleiben sie an einem Ort und wohnen in Familien. „Einmal sind wir 76 km gefahren, um für nur ein Kind des abgelegenen Dorfes unser Theaterstück aufzuführen. Uns geht es nicht um den Applaus, sondern den Appell ans Herz.“ Das gelingt ihnen auch sofort bei uns. Sechs Männern und einer Frau, die meisten ohne Tanzausbildung, schauen wir beim Proben zu und müssen uns dann, extrem beeindruckt vom Niveau, überreden lassen, Hotta Chocolata, Mücken und – na? – BUS zu zeigen. Und wieder machen wir die schöne Erfahrung, dass sich die technisch und tänzerisch so überlegenen Künstler so sehr für unsere von Geschichten und guter Laune lebende Performance begeistern.

Am Abend hat unsere wundervolle Carmen ein Geschenk für uns: Die Landschaft und der Playa de Larga von Caletón! Wir wohnen in der Pension oder privat vermieteten Häuschen, z. T. direkt am Sandstrand, nicht mal einen Steinwurf vom Meer entfernt. Das karibische Abendbuffet zu Sonnenuntergang und Live-Musik, unter Palmen und einem explodierenden Sternenhimmel, krönt eine riesige Kremtorte. Am nächsten Abend werden unsere Tanzmütter diese reuevoll ablehnen – natürlich nur im Tanz Hotta Chocolata, den wir den Einheimischen zeigen, mit vielen anderen aus unserem Repertoire und einem eilends improvisierten Krabbenkreis. Ein ziemlich großes unerschrockenes Schalentier rückte uns nämlich auf der zur Bühne erklärten Pensionsterrasse nicht von der Pelle. Wir nahmen uns einfach ein Beispiel an den Cigarras: So nennen die Kubaner ihre großen Libellen, die niemals zusammenstoßen, auch wenn sie in großen Schwärmen fliegen. (Und wenn doch, dann nennt man sie Marihuana. Aber wir trinken unseren Cocktail ja immer erst nach dem Auftritt!)

Freitag, 23.10.: So rot wie Blut….

Der Sieg des Sozialismus in der Schweinebucht verschiebt sich wegen Stromausfall. Das berühmte Museo Playa Girón ist bei unserer Ankunft zappenduster – und könnte es auch den ganzen Tag bleiben, lassen uns die in dieser Hinsicht leidgeprüften Museumsangestellten wissen. Doch wir haben Glück: Nach kurzer Zeit erstrahlen Besucheraugen, Ausstellungstafeln und die Anfänge des kubanischen Sozialismus wieder in hellem Glanze. Die 1958 nach 60-jähriger Präsenz auf Kuba vertriebenen US-Amerikaner wollten die Insel nicht aufgeben. Sie ließen hier in der Schweinebucht Fallschirmspringer landen, die eine Brückenkopfregierung bilden und Amerika um Hilfe bitten sollte. Der Plan ging schief: Fidel gab die berühmte Losung „Vaterland oder Tod“ aus und soll – historischer Zufall oder Legendenbildung? – der feindlichen Invasion höchstselbst den Todesstoß versetzt haben. Das passende Foto dazu hängt in der Ausstellung – ebenso wie das berühmte Bild, auf dem der sterbende Eduardo García Delgado mit seinem Blut den Namen Fidels auf eine Tafel schreibt.

Am Strand der Schweinebucht ist es bis heute gefährlich: Carmen verbietet das Baden! Die Stiche aggressiver Fische an den Korallen hier würden zwar nicht töten, aber große Schmerzen und Probleme bereiten.

Sonnabend, 24.10.:  Ich schwimm mal näher an den Sonnenaufgang heran!

Viel zu zeitig für Frühstück und Auftritt - dennoch sind Punkt 7 Uhr nahezu alle Step-byStepler am oder im Wasser. Den Sonnenaufgang über dem Meer ungeduldig erwartend ruft Lisa: Ich schwimm schon mal ein bisschen näher ran. Mit dem atemberaubenden Bild des am Horizont aufsteigenden Feuerballs fällt uns der Abschied von der malerischen Karibikbucht noch schwerer…

Es geht zu einem gemeinsamen Auftritt dreier Tanzteams in das kleine, im Gegensatz zu Havanna idyllischere und weniger zerfallen wirkende Städtchen Colón. Das nach Christopher Kolumbus benannte und mit 180 Jahren recht junge kulturelle Zentrum der Region sehnt sich nach Internationalität, Austausch und intensiven Beziehungen zu allen Ländern der Welt. Das Theater selbst hat allerdings schon bessere Zeiten gesehen. Nur jeder dritte Klappsitz hat Lehne und Plastikpolster, die Fenster sind Löcher, die Decke ist einsturzgefährdet, aus den morschen Bühnenbrettern ragen Nägel und Holzsplitter. Als wir, mangels Umkleiden und Toiletten Haut an Haut mit den Tänzerinnen und Tänzern von Bebé und MusiCaribe in unsere Kostüme schlüpfen, verstehen wir plötzlich viel besser die Begrüßung des Bürgermeisters: „Heute soll ein Tag der Gemeinschaft, der Solidarität und der Freundschaft zwischen den Völkern werden.“

So skurril die Location, so erstklassig die Show – von Bebé und MusiCaribe. Neidisch bestaunen wir den Männerüberschuss im Coloner Team mit seinen durchtrainierten Kindern und jungen Erwachsenen. MusiCaribe übt fast täglich, wie wir beim kurzen Gedankenaustausch backstage erfahren. Neben der perfekten, von archaischen afrikanischen Tanzelementen und viel Akrobatik durchsetzten Performance fühlen wir uns schon etwas klein. Kein Grund, muntert uns Oscar Rodríguez von MusiCaribe auf: Die Fröhlichkeit in unseren Gesichtern überstrahle alles. Sogar von den deutschen Tanzmüttern würde er die eine oder andere hier behalten.

Apropos Strahlen: Auf der dreistündigen nächtlichen Busfahrt zurück gen Havanna schreckt uns eine Vollbremsung unseres Busses aus dem Schlaf. Gerade noch rechtzeitig erblickt unser aufmerksamer, routinierter José das dunkle Pferdegefährt vor uns auf der rechten Spur – „beleuchtet“ nur durch ein Handy, das der Fahrer in der Hand schwenkt. Alltag auf der Autobahn.

Sonntag, 25.10.: Ein Gottesdienst der anderen Art

An diesem Sonntagvormittag verpassen wir die letzte Gelegenheit, eine Andacht in „unserer“, zum Zentrum gehörenden Baptistenkirche mitzuerleben. Denn wir sind mit dem Maler Saulo Serrano verabredet – und einigen „seiner“ 21 Kinder, deren künstlerisches Talent er fördert. Und das, sehen wir schnell, ist auch ein Gottesdienst. „Der sich opfert, hat das Recht zu triumphieren“, so eröffnet denn auch Saulo an diesem Sonntag mit uns die kleine Ausstellung mit einem Dutzend Bildern, die die elfjährige Dariana in den Ferien auf Pappkartons getuscht hat. Der kleine drahtige Kunstlehrer im bunten Hemd und mit den vielen lustigen Falten im Gesicht meint damit, dass sie einmal eine große Künstlerin wird. Vielleicht tragen die von uns mitgebrachten Malutensilien und Stifte ja dazu bei ...

„Ich bin 18 Jahre alt, stelle aber einen Mann dar, der 77 ist“, sagt der seit mehr als einem halben Jahrhundert im kubanischen Kunstbetrieb tätige Saulo, als er vor seinem Lieblingsbild steht: Dem 1975 von ihm gemalten Bauernhaus, in dem er geboren wurde. Das unscheinbare kleine Ölgemälde hängt zusammen mit dutzenden anderen seiner oft viel größeren und farbintensiveren Werke in jedem Raum und an jeder Wand der kleinen Künstlerwohnung. Auf jedem freien Platz stehen Büsten, liegen Skizzen und prall gefüllte Zeichenmappen. Wir dürfen überall in der Diele, im Wohn- und Schlafzimmer gucken und stöbern. Am meisten faszinieren uns seine bunten, ja schrillen Darstellungen von Vögeln – vom Kolibri bis zum Adler. Und am Ende fliegen nicht wenige davon mit uns bis nach Berlin. Vor dem Fliegen fährt hier zum vorletzten Mal der Bus ab – mitten auf der Straße. Unsere Performance ist inzwischen so authentisch, dass die Passanten mitten in die Choreo laufen. Nun gehören wir richtig dazu, glauben wir.

Glaube, Liebe, Hoffnung: Die drei Eingangsbögen zum Cementerio Cristóbal Colón, dem Christoph-Kolumbus-Friedhof im Stadtteil Vedado, dem größten der 21 Friedhöfe von Havanna, spiegeln die Symbole der christlichen Kirche wider. Aber am Ende reichen nicht Glauben an oder Hoffnung auf ein Grab, hier wird seit 144 Jahren nach Reichtum bestattet. Daran hat auch die Revolution nichts geändert, die die Hauptstraße bei der Verstaatlichung „vergaß“, so dass die größten und vermögendsten Feinde der Revolution hier weiter ihre ewige Ruhe suchen dürfen. Gerade mal ein Schwarzer liegt in der ersten, teuersten Reihe begraben: Er war erst Diener, dann Fahrer, später Geliebter einer Weißen. Anders als bei uns sind die Grabstätten hier pompöse steinerne Denkmäler; Erde und Pflanzen gibt es nicht, statt Blumen wird z. B. ein Cocktailglas abgestellt – von der Vereinigung der Barkeeper am Grab von Hemingways Mixer in der Floridita-Bar, dem Erfinder des Daiquiri. Was für Geschichte(n) wir hier hören! Zur Grabstätte von Kubas zweitem Präsidenten führt eine Treppe hinunter, damit sich Besucher des korrupten Staatsmannes auch nach seinem Tod vor ihm bücken müssen. Ein anderes Grab ist dem Wohnhaus des Verstorbenen nachgebaut – mit Stromanschluss, damit die Witwe bei ihrem Mann auch einmal übernachten kann. Die höchste Grabstätte ist 30 Feuerwehrleuten gewidmet, die 1890 bei der Löschung eines brennenden Ladens in AltHavanna umkamen. Die Fledermäuse auf diesem Grab stehen für den Verrat, denn der Ladenbesitzer hatte explosive Stoffe gelagert. Der Pelikan symbolisiert die Opferung der Feuerwehrmänner: Bei Futterknappheit holt der Vogel Blut aus der eigenen Brust für seine Jungen.

Die meistbesuchte, bekannteste Grabstätte gehört einer Wundertätigen. Wenn Blutsverwandte sich am selben Tag vermählen, sagt eine alte kubanische Regel, bringt das dem einen Paar Glück, dem anderen Pech. Nachdem zwei Schwestern gemeinsam geheiratet hatten, starb die eine, als sie ihr Kind im 8. Schwangerschaftsmonat verlor. Als deren Grab Jahrzehnte später noch einmal geöffnet wurde, fand man nicht nur beide Leichen unverwest. Das Kind, bei der Beerdigung traditionell in den Schoß der Mutter gebettet, lag nun in ihren Armen. Wie viele Menschen, die täglich zu diesem heiligen Grab pilgern, umwandern auch wir die Grabstätte, berühren die Mutter-Baby-Statue und wünschen uns etwas dabei.

Zwei Millionen Menschen wurden in dieser Totenstadt begraben, bis zu 50 Bestattungen sind es heute noch jeden Tag. In die Hauptstraße ist allerdings seit mehr als 50 Jahren niemand Neues mehr eingezogen. Und Fidel Castro soll sich bereits für ein Familiengrab an seinem Heimatort entschieden haben, da, wo auch José Martí begraben liegt.

Und Ernesto Guevaras Grab? Nachdem er 30 Jahre an einem heimlichen Ort in Bolivien begraben lag, fand der Leichnam seine letzte Ruhestätte im kubanischen Santa Clara. Ob der Spitzname Che auf das Rachengeräusch des asthmakranken Medizinstudenten oder auf die Bezeichnung für Kumpel in Argentinien zurückzuführen ist, dürfen wir uns aussuchen. Name und Mensch waren jedenfalls schon zu Lebzeiten eine Legende. Sein berühmtes Konterfei, das weltweit bekannteste Gesicht, ziert auch T-Shirts und Tassen in den Souvenirläden auf der Festung von Havanna, eine der größten in ganz Lateinamerika und seit 1992 UNESCO-Weltkulturerbestätte. Als sie Mitte des 18. Jahrhunderts errichtet wurde, verlangte der spanische König Carlos III. ein Fernglas: Ein so teurer Bau, meinte er, müsse doch von Madrid aus zu sehen sein! Heute strömen Besucher hierher, um Ches Kommandozentrale zu sehen. Nachdem Fidel und Che beim Importversuch der Revolution 1958 schon beim Eintreffen an der Küste ihre meisten Männer verloren, sammelten sie sich und kampfbereite Bauern in den Bergen und stürmten am 1. Januar 1959 Havanna; einen Tag später richtete Che seine Kommandozentrale auf der Festung ein. Weil das Regieren den charismatischen Kämpfer aber bald anödete, beschloss er, samt Revolution nach Bolivien zu ziehen, wo man ihn erschoss.

Mit weniger gefährlichen Schüssen geht dieser Tag zu Ende. In Zeiten ohne Uhr und Handy kündeten früher Kanonen vom Schließen der Stadtmauer und trieben die Havannaer nach Hause. Heute schlürfen Touristen bei der Kanonenschusszeremonie einen Mojito, genießen den wundervollen Blick von der Festung über das Lichtermeer der Stadt und amüsieren sich über das Aufmarschieren der Soldaten – ja eigentlich ist es mehr ein Tänzeln. Wie sympathisch.

Montag, 26.10.: „Das wichtigste ist so wie so: die Leidenschaft“

Hier wird keinesfalls getänzelt – hier wird richtig Ballett gemacht: Wo vor der Revolution ein exklusiver Country Club stand, zu dem nicht einmal der kubanische Präsident aufgrund seiner dunklen Hautfarbe Zutritt hatte, wurde 1965 die Nationale Hochschule für Kunst gegründet. Auf Wunsch von Fidel Castro, der diesen Ort in eine Stätte für alle Kunstliebhaber egal welcher Herkunft und Hautfarbe wandeln wollte, liegen hier am Stadtrand von Havanna nun fünf einstöckige, helle, luftig konstruierte Gebäude in einen Wald-Wiesen-Mix gestreut – je eines für die Kunstrichtungen Ballett, bildende Kunst, Musik, Tanz und Theater. Was in unserer staatlichen Ballettschule das Klavier ist, sind hier die Trommeln. Still, mit großen Augen und offenen Mündern schauen wir dem ersten Studienjahr beim Technik-Training, dem 2. bei einem Mix von Ballett und kubanischem Tanz zu. Ein Grinsen erlauben wir uns beim 3. Jahr, das sich heute am HipHop versucht – ein nicht ganz leichtes Unterfangen für die angespannten und aufrechten Körper der konzentrierten Ballerinas und Tänzer. Sie alle haben eine fünfjährige elementare Tanzausbildung an ihrer Grundschule hinter sich und starten mit durchschnittlich 14/15 Jahren hier ins mittlere Niveau, auf das man nach drei Jahren eine Uni-Ausbildung draufsatteln kann. Die meisten der jährlich bis zu 45 Absolventinnen und Absolventen dieser Schule bekommen nach ihrem Abschluss hier aber schon einen Job. Neben Ballett und Tanztechnik, Folklore und Modern, Choreografie, Gesang und Schauspiel gibt’s in den täglichen 10 Unterrichtseinheiten zwischen 8 und 17.30 Uhr Lektionen auch in Mathe, Physik, Spanisch, Geschichte und Sport. Natürlich sind für die fast 150 Schüler, gut ein Viertel davon Jungs, Ausbildung samt Tanzkleidung und Unterrichtsmaterialien, Unterkunft und Verpflegung kostenlos.

Über die Gerade den kubanischen Hüftschwung mit zu trainieren, kostet die meisten von uns zuviel Überwindung. Als die Direktorin, Trainerin und Schüler von uns etwas sehen wollen, werden die Knie weich. Aber auch hier funktioniert‘s: Unser professionelles Publikum ist fasziniert davon, wie bei unserem Bus Gesten wie Gähnen, Winken oder Telefonieren überall auf der Welt sofort verstanden werden. Und das Wichtigste, so die Direktorin, ist sowieso die Leidenschaft.

Dienstag, 27.10.: „Gib mir nicht deinen Backenzahn!“

Mit Ballett und Leidenschaft starten wir auch in den nächsten Morgen: Das im CMLK zweimal pro Woche trainierende „Psychoballett“ tanzt mit uns Giraffen zur Erwärmung und Elefanten für die Koordination; als alkoholisierte Zwerge beugen, schaukeln und wippen wir im Takt – die Leiterin des Psychoballetts mit einem guten Dutzend Rentner zwischen 80 und 103 Jahren ist überzeugt davon, dass die kubanische Musik vom Walzer stammt.

Auch die Bildhauerin und Malerin Isis de Lázaro hat 15 Jahre getanzt: in ihren Ausstellungen und bei Kunstaktionen auf der Straße - immer barfuß, um die Energie des Bodens aufzusaugen. Die Tänze vervollständigten die Aussage ihrer Werke. Die keine traditionelle kubanische, eher moderne Kunst sind und ihre Protagonisten in Frauen, in Tänzerinnen finden. Die Tochter des Schöpfers der berühmten Che-Skulptur im kubanischen Santa Clara hat ihre Serie zum Malecón auf der letzten Biennale von Havanna gezeigt. Noch wichtiger scheint ihr zu sein, sich mit ihrer Kunst dem, wie sie es nennt, „gesellschaftlichen Autismus“ in den Weg zu stellen. Die wirtschaftliche Krise, so Isis de Lázaro, ziehe immer andere Krisen hinterher, und die schlimmste sei die Krise der Werte: der Bildung, der Menschlichkeit, des Umgang miteinander und mit älteren Bürgern. Gegen diese Form des Individualismus geht sie zusammen mit den Menschen aus ihrer Gemeinde auf die Straße, malt Riesenbilder auf den Asphalt, so dass Autos und Räder anhalten, Fahrer aus- und absteigen, man in Kontakt kommt. „Dabei wird musiziert, Bücher werden verkauft. Und dann regnet es und alles ist wieder weg“, sagt die hochgewachsene schlanke Künstlerin und wirft lachend ihre langen schwarzen Locken zurück.

„Kau mir nicht das Ohr ab“ heißt auf kubanisch: „Gib mir nicht deinen Backenzahn!“ So einer thront übermannsgroß in der Mitte des John-Lennon-Parks, in dem sich die Hauptstädter gern auf einen Schwatz treffen – z. B. auch mit John Lennon, der mit einladender Geste auf einer der Bänke sitzt. Die Bronzefigur ist ein Top-Fotomodell, weshalb seine Brille immer wieder gemopst wurde. Nun bewacht ein kleines unscheinbares Männlein den Fetisch – und wer ein paar Pesos über hat, dem leiht es fürs Shooting ein Lennon-Brillen-Double. Wir zücken unsere Börsen... Auch wir sind zum Reden hergekommen: Wir wollen von unserer Reiseleiterin Carmen wissen, was sich die Kubaner von der politischen Öffnung der USA gegenüber ihrem Land versprechen. Die meisten hier sehnen sich nach Veränderungen, so Carmen, möchten aber auch die kubanischen Errungenschaften wie das Gesundheits- oder das Bildungssystem behalten. Ein Gesetz soll den (Aus)Verkauf von Grundstücken und Häusern an US-Amerikaner verhindern – aber schon heute finden sich Schlupflöcher – z. B. durch Heirat mit einer Kubanerin oder einem Kubaner. Schon lange funktioniere die Gesellschaft hier über Beziehungen: Gute Kosmetik oder Kleidung gäbe es nur über Devisen; und wer keine hat, weil er nicht mit Exilkubanern verwandt ist oder einen guten Job im Tourismusgewerbe hat, muss eben tricksen. Die Kubaner, vor allem junge Leute, seien kaum für Politik zu begeistern – das sei finanziell einfach zu unattraktiv und erscheine vielen aussichtslos. Dabei ließe sich manchmal was bewegen: Der Leiter unseres Martin-Luther-King-Zentrums hat als einziger Parlamentsabgeordneter gegen das Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe gestimmt. Das Gesetz ist trotzdem gekommen, aber mit Veränderungen. Wenn Carmen mit den US-amerikanischen Gruppen, die sie ja meistenteils betreut, die Reise auswertet, schleicht sie sich während der Diskussion langsam raus. Die Amis würden dann untereinander Vorschläge machen, wie man daheim Verständnis für die Situation in Kuba entwickeln könnte; manche schreiben einen Brief an ihren Senator, manche stiften neue Gruppen zu Kuba-Reisen an. Es läge in der Natur der Kubaner um nichts zu bitten, umso größer sei die Freude, wenn lebensnotwendige Dinge wie OP-Seide und Verbandsmaterial oder Alltagsgegenstände wie Stifte und USB-Sticks oder einfach schöne Kosmetik mitgebracht werden. „Die Kubaner schätzen es sehr, dass ihr immer freundlich und voller Respekt auf sie zugegangen seid.“, rührt Carmen uns mit ihrem Kompliment. Zum Abkühlen brauchen wir erstmal ein Eis – natürlich aus der berühmten Coppelia (auch wenn nur die Älteren von uns den auf einer Berlinale ausgezeichneten kubanischen Streifen „Erdbeereis und Schokolade“ gesehen haben). Als Ausländer haben wir allerdings leider einen abgetrennten Extra-Stand - mit kürzerer Warteschlange und anderen Eissorten: Vanille, Schoko und Vanille mit Guavesplittern. Die Kugeln werden nach Gewicht bezahlt und kosten für uns umgerechnet 1,30 €. Die Kubaner stehen für andere Sorten zu anderen Preisen in einer anderen Währung in langen Warteschlangen an vier Eingängen an und werden schubweise von Polizisten eingelassen.

Wir ruhen uns kurz im berühmten Hotel Habana Libre aus, das nach der Revolution als Hauptquartier der Regierung Castro diente. Während man in der Lobby einfach so lümmeln darf – ohne Dresscode, ohne etwas bestellen zu müssen, ohne ein Zimmer zu haben, eröffnet sich einigen Neugierigen von uns ganz oben in der 25. Etage ein allerfeinstes Nobelrestaurant im Artdeco-Stil, mit Goldrandbesteck und feinem Tuch eingedeckten Tischen, Körben voller Champagner und Wein... Fasziniert von diesem Ein- und dem Ausblick über die Stadt müssen wir uns wenig später trollen – es kommt ein Kellner, der offensichtlich vergessen hatte abzuschließen. Jedoch noch einen Tick nobler gibt sich das Hotel Nacional mit edler Bar und formvollendetem Hotelgarten, wo schon Frank Sinatra und John Wayne, Marlene Dietrich und Jean Paul Sartre und später sogar Udo Lindenberg abstiegen, wie seine Unterschrift an der Gästewand belegt. Feinster Luxus statt faules Lümmeln - von irgendwoher müssen die Devisen ja kommen...

Mit einem letzten abendlichen Stadtbummel nehmen wir Abschied von Havanna, von Malecón und Ambos-Mundos-Hotel, den wundervoll restaurierten Kolonialbauten und den dunklen einsturzgefährdeten Wohnhäusern direkt daneben, den Rikscha-Fahrern, die an jeder Straßenecke neben stinkenden Mülltonnen auf Gäste warten. Ein letzter Mojito, die letzte Piña Colada in einer Bar mit Live-Band - und zurück geht es über den Prado, durch den José-Martí-Park, am Capitol vorbei über den Obispo-Boulevard zum Bus, der uns zur vorletzten Nacht in unsere Herberge bringt.

Mittwoch, 28.10.: Felicidad, Amistad, Solidaridad

Am Jahrestag des Todes von Camilo aus dem Revolutions-Trio mit Fidel und Che werden überall an den Stränden der Insel Blumen ins Meer geworfen, auch wenn man dort Flugzeug und Leiche nie gefunden hat. Als wir vormittags am Strand von Baracoa ankommen, waten wir bereits durch ein Blumen-Meer. Am Abend, nach dem letzten langen Strandtag und vor unserem letzten Sonnenuntergang auf Kuba, legen auch wir zusammen mit unseren Freundinnen von Bebé Compañía in einer stillen Minute Nelken ins Wasser.

Felicidad, Amistad, Amor und Solidaridad. Leidenschaft, Freundschaft und Herzenswärme. Luftküsse, kubanische Tanzschritte, Gesten aus unserem Bustanz: Am Abschiedsabend im CMLK stehen wir mit Bebé Compañía Schulter an Schulter im Kreis und sagen und zeigen, was uns diese Reise, diese Begegnung bedeutet. Alle Kinder und schwangeren Frauen werden in die Kreismitte geschoben, und mit geschlossenen Augen denkt jedeR daran, wie wir die Welt von morgen etwas besser machen können. Bevor zu viele Tränen der Rührung fließen, wird rasch eine große, von unseren kubanischen Freunden mitgebrachte Torte angeschnitten. Und wir verteilen unter großem Hallo unsere Gastgeschenke: Tanzutensilien, Spiele, Schulmaterialien. Das größte Geschenk für uns wäre ja ein Gegenbesuch der kubanischen Tanzgruppe in Berlin. Bebé Compañía wird 2016 zwanzig Jahre alt, im Jahr darauf, meint Leiterin Berta, könnte es klappen. Und Carmen, unsere herzliche und humorvolle, findige und fabelhafte Reisefee, die uns so viele Türen in Häuser und Herzen geöffnet hat, soll mitkommen. Versprochen? Cuba sí! See you, Cuba!!!

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